Entwicklung

Proteste mit Flaggenmosaik und ethnisch einstimmig vorgetragenen Parolen

In Skopje, oder albanisch Shkup, kam es gestern Abend zum zweiten Mal hintereinander zu Protesten. Im Unterschied zu den ersten Protesten gab es keine Fahnenszenerie. Zu sehen waren vor allem Tafeln  mit Aufrufen gegen die Regierung und gegen die brutale Polizeigewalt.

Die protestierende Menge rief Parolen gegen die Regierung, doch war auch die makedonische Hymne nicht zu überhören, die bei den Albanern weder bekannt noch beliebt ist.

Bei den Protesten des ersten Abends, welche in Gewalt eskalierten, fand sich ein Mosaik bestehend aus der makedonisch-staatlichen  und der albanischen Fahne.

Es waren die Aktivisten der Studentenorganisation “Studentenplenum”, die die albanische Flagge hielten. Diese studentische Organisation besteht auch aus albanischen Studenten, die an der Universität Skopje studieren und die als erste Proteste gegen die Regierung in Makedonien anfachten.

Doch die Proteste der letzten zwei Tage brachen nach der Publikation des Materials der Abhöraktion durch die makedonische Opposition aus. Darin kommen Details zu Tage über das Verbergen von Fakten und Verantwortung durch Innenministerin Gordana Jankulovska und Ministerpräsident Nikola Gruevski im Zusammenhang mit der Tötung des jungen Makedoniers Martin Neskovski durch einen Polizeiangehörigen in der Nacht des 5. Juni 2011 in Skopje, als die VMRO-DPMNE ihren Sieg an den Parlamentswahlen feierte. Dies revoltierte die Bürger und brachte sie auf die Strasse. Doch zu Diskussionen führte die Frage, ob die Albaner sich an diesen Protesten beteiligen sollen oder nicht.

Valmir Hamidi, Student aus Shkup, beteiligt sich an den gegen die Regierung organisierten Protesten. “Ich persönlich beteilige mich. Ich will nicht für die anderen sprechen, das ist eine persönliche Angelegenheit. Doch ich finde es wichtig, zu sagen, dass es eine ethnische Homogenisierung gibt, und diese zeigt sich in den Protesten. Wenn in früheren Zeiten die albanische Fahne inmitten einer solchen Menge geweht hätte, hätte dies zu einem mehr als üblen Ende geführt. Doch ich sehe, dass sie eine andere Akzeptanz hat, denn die albanische Fahne wird auch von Makedoniern gehalten. Darüber kann man vielleicht diskutieren. Ich gehe nicht auf andere Details ein, ob sie inszeniert sind oder was sie sind”, sagt Valmir.

Grosse Dilemmas gibt es  auch unter den Vertretern der albanischen Parteien, den albanischen Analysten und Intellektuellen.

Unter den politischen Parteien herrschen verschiedene Ansichten bezüglich der Frage, ob diese Proteste unterstützt werden sollen. Die LSDM (Makedonische Sozialdemokratische Union) als Anführerin der makedonischen Oppositionsfront ruft dazu auf, auch die Albaner und die anderen Gemeinschaften möchten sich dem Kampf zum Sturz der Regierung von Ministerpräsident Nikola Gruevski anschliessen.

Das Vorstandsmitglied der LSDM Edmond Ademi, selber albanischer ethnischer Zugehörigkeit, sagt gegenüber albinfo.ch, dass das aufgeworfene Dilemma kein wirkliches Dilemma sei.

“Die Situation ist in diesem Fall sehr klar. Entweder sind Sie gegen die Macht von Nikola Gruevski, der uns seit mehr als zehn Jahren als Volk so behandelt, wie er uns behandelt, die Abhörungen selbst zeigen klar, wie sie über die Albaner denken, oder Sie unterstützen seine Macht. Eines weiss ich, dass die absolute Mehrheit der Albaner gegen diese Regierung ist, und dass viele von ihnen die Proteste unterstützen. Jene, die versuchen das Publikum zu manipulieren mit Analysen, dass die Albaner die Proteste nicht unterstützen sollen, sind Anhänger Gruevskis, und sie erhalten finanzielle und persönliche Vergünstigungen von ebendiesem Gruevski. Als Albaner haben wir die historische Chance, als Bürger dieses Staates Teil einer neuen Republik zu sein! Was uns zu Beginn der 90er-Jahre fehlte, und was uns auch das Jahr 2001 nicht brachte, liegt heute vor uns”, sagt Ademi.

Nach ihm sollten alle die Proteste gegen Gruevski unterstützen, denn dies sei nicht nur ein Kampf der LSDM oder nur der Makedonier, sondern ein Kampf von 99% gegen 1%.

“Es ist der Kampf gegen Korruption, Verbrechen, Verachtung, gesellschaftliche, kulturelle und nationale Herabsetzung. Wenn jemand das grösste Opfer dieser Regierung war, dann die Albaner”, sagt Edmond Ademi.

Der Sprecher der BDI (Demokratische Union für Integration, alb. Bashkimi Demokratik për Integrim ), Bujar Osmani, betont, dass Protestieren ein verfassungsmässiges Recht ist und jeder das Recht hat, zu protestieren. Weiter wolle er sich nicht äussern. “Doch wichtig ist, dass die Proteste ruhig verlaufen und dass Menschen oder öffentliches Eigentum keinen Schaden erleiden”, erklärte Osmani.

Doch einer der führenden Köpfe der neuen albanischen Oppositionsbewegungen, Ziadin Sela, erklärt gegenüber albinfo.ch das Dilemma in Bezug auf eine mögliche Teilnahme der Albaner.

“Alle können protestieren angesichts einer gegen die Interesse der Bürger agierenden und antidemokratischen Regierung, doch die Albaner und die Makedonier können, so wie sie vor der Verfassung und den Gesetzen nicht gleich sind, auch beim Protestieren noch nicht gleichgestellt sein. Es liegt im Interesse der Albaner, dass die jetzige Regierung VMRO-BDI der Vergangenheit angehören möge, doch noch mehr liegt es in ihrem Interesse, endgültig die Fragen des Gebrauchs der albanischen Sprache im ganzen Land, der gerechten und proportionalen Aufteilung des Budgets, einer auf vollständigem Konsens basierenden Beschlussfassung in einem Parlament mit zwei Kammern und einer vollständig dezentralisierten Lokalregierung zu regeln. Solange wir nicht öffentlich von welchem nichtalbanischen Politiker auch immer hören, dass sie an all diesen Fragen interessiert sind, haben wir keinen Grund irgendetwas zu hoffen”, erklärte der Präsident der Bewegung für Reformen in der PDSH (Albanische Demokratische Partei, alb. Partia Demokratike Shqiptare), Ziadin Sela.

Auch unter den albanischen Analysten und Intellektuellen gehen die Diskussionen weiter.

Der politische Analyst Emin Azemi betont, dass die Albaner sich nicht an diesen Protesten beteiligen sollten.

“Die Albaner sollten sich nicht an diesen Protesten beteiligen, wo  ihre Rolle darauf beschränkt wäre, für kurze Zeit benutzt zu werden, nur um Gruevski von der Macht zu stürzen. Es ist mitnichten fair, dass die in keiner Plattform organisierten Albaner sich an einem Protest beteiligen sollen, der im vornhinein alle strategischen Elemente der makedonischen Oppositionspolitik aufweist. Gegen das Regime von Gruevski zu protestieren und zur Installierung einer anderen politischen Kraft beizutragen, die keinerlei Garantie abgegeben hat, dass Makedonien morgen ein Staat mit einem Zweikammernparlament und einer klaren horizontalen und vertikalen Linie der politischen Beschlussfassung der Albaner sein wird, wo das Budget und die wirtschaftliche Entwicklung den demografischen und räumlichen Bedürfnissen und Ressourcen der Albaner entsprechen werden, gleicht exakt der Wette, die wir eingangs beschrieben haben. Ein Einbezug der Albaner in die Proteste kann auch nicht symbolisch mit drei verknüpften Fahnen an den Protesten umschrieben werden”, urteilt der Analyst Azemi.
Der Universitätsprofessor Lubomir Frçkovski betont, seiner Ansicht nach sollten die Albaner den Sturz der von den beiden Parteien VMRO-DPMNE und BDI installierten Diktatur unterstützen. Das Positivste an den jüngsten Entwicklungen sei die staatsbürgerliche Partnerschaft zwischen den Albanern und den Makedoniern gegen diese Regierung.
“Ich denke, dass aus dieser tiefen politischen Krise etwas Gutes herauskam, etwas, das unsere Gesellschaft braucht. Ich spreche von der starken Partnerschaft der Makedonier, Albaner und anderen ethnischen Gemeinschaften, die gemeinsam ihre Stimme gegen die aktuelle Diktatur erheben. Das soll weiter so bleiben”, hob der Professor und frühere Präsidentschaftskandidat der makedonischen Opposition, Frçkovski, hervor. Laut ihm geht es um die Rückkehr von Demokratie, Wahrheit und  Rechtsstaat.
Unabhängig von diesen Diskussionen existieren individuelle Überzeugungen und geteilte Meinungen unter den Albanern, ob sie die Proteste gegen die aktuelle Regierung unterstützen sollen oder nicht.