Integration

„Die albanisch-muslimische Gemeinschaft in der Schweiz ist nicht konservativ, sondern offen und integrativ“

Interview mit Imam Mehas Alija, Präsident der Albanisch-Islamischen Gemeinschaft in der Schweiz (AIGS)

Ein am vergangenen Sonntag in der Zeitung Tages-Anzeiger veröffentlichter Artikel hat bei der Albanisch-Muslimischen Gemeinschaft in der Schweiz Besorgnis ausgelöst. Die Medienplattform albinfo.ch sprach mit Imam Mehas ef. Alija, dem Vorsitzenden der Albanisch-Muslimischen Gemeinschaft in der Schweiz, über die kritische Wahrnehmung des Artikels.

Alija erklärt, dass dieser Artikel selektiv sei und nicht die Realität der Mehrheit der albanischen Moscheen widerspiegele, die offen, kooperativ und in die Schweizer Gesellschaft integriert sind. Er betont die Fehlinterpretation des Themas um Mädchen mit Kopftuch und hebt deren persönliche Freiheit sowie die zahlreichen Erfolge im Bildungs- und Berufsleben hervor.

Ebenso äußert er sich zu öffentlichen religiösen Persönlichkeiten und ruft zu Achtsamkeit und Selbstkritik auf. Schließlich hebt er die guten Beziehungen zu den lokalen Behörden hervor und vermittelt die zentrale Botschaft eines offenen, verantwortungsbewussten und mit den Werten des modernen Schweizerstaates harmonierenden Islams.

Das vollständige Gespräch mit Imam Mehas ef. Alija, dem Vorsitzenden der Albanisch-Muslimischen Gemeinschaft in der Schweiz, finden Sie im Folgenden.

Albinfo.ch: In einem Artikel der Zeitung Tages-Anzeiger wird die albanisch-muslimische Gemeinschaft in der Schweiz wegen eines angeblich „immer konservativeren Islams“ kritisiert. Wie lautet Ihre Stellungnahme dazu?

Mehas Alija: Zunächst danke ich Ihnen und der Redaktion von Albinfo.ch für die Möglichkeit, uns zu diesem Thema zu äußern. Der im Tages-Anzeiger veröffentlichte Artikel hat einen kritischen und skeptischen Ton, ist jedoch zugleich selektiv und einseitig. Er spiegelt nicht die Realität der Mehrheit der albanischen Moscheen in der Schweiz wider. Anstatt eine neutrale und journalistisch ausgewogene Analyse zu bieten, enthält der Artikel voreingenommene Tendenzen und versucht, aus Einzelfällen die gesamte Gemeinschaft zu verallgemeinern. Zumindest hätte ein Ausgleich durch die Darstellung vieler positiver Beispiele erfolgen müssen, die es in unserer Gemeinschaft gibt.

Darüber hinaus folgt der Artikel einem bekannten Muster: dramatische Überschriften, gezielt ausgewählte Fotos und hervorgehobene Zitate, die ein falsches Bild erzeugen. Wir als Albanisch-Muslimische Gemeinschaft in der Schweiz sind offen für jede ehrliche Diskussion und konstruktive Kritik, nicht jedoch für Ansätze, die Vorurteile und Ausgrenzung fördern.

Alle unsere Moscheen sind für die Öffentlichkeit zugänglich und können von jedem besucht werden. Seit der Verabschiedung der Charta im Jahr 2017 haben wir unser Bekenntnis zur schweizerischen Rechtsordnung, zur Gleichstellung der Geschlechter und zum friedlichen Zusammenleben klar betont. Das ist die wahre Realität unserer Gemeinschaft  ein integriertes, verantwortungsbewusstes und ausgewogenes Wirken, das einen positiven Beitrag zur Schweizer Gesellschaft leistet.

Albinfo.ch: Im Artikel wird besonders kritisiert, dass in einigen Moscheen junge Mädchen mit Kopftuch gesehen wurden. Wie reagieren Sie auf diese Kritik und wie ist Ihre Haltung zum Thema Kopftuch?

Mehas Alija: Das ist ein typisches Beispiel für eine selektive Wahrnehmung. Die Fotos, die als „Beweis“ verwendet wurden, zeigen Mädchen, die im Alltag und in der Schule kein Kopftuch tragen, sich aber bei religiösen Zeremonien oder im Koranunterricht traditionell kleiden  so wie es in jeder Kultur oder Religion bei religiösen Anlässen üblich ist. Niemand zwingt sie dazu; es beruht auf dem freien Willen der Eltern und Kinder. Dies als Zeichen von „Konservatismus“ darzustellen, ist ungerecht und schafft das Klischee des „unterdrückten muslimischen Mädchens“.

In Wirklichkeit gehören albanisch-muslimische Mädchen in der Schweiz zu den erfolgreichsten in Schule, Universität und Beruf  von Juristinnen über Psychologinnen bis hin zu Sportlerinnen. Einige tragen ein Kopftuch, andere nicht, und alle leben frei und respektiert. Mehrere dieser jungen Frauen haben auf den Artikel reagiert und sich durch die Darstellung der Journalistin verletzt und missachtet gefühlt.

Albinfo.ch: Im Artikel wird auch über das religiöse Leben im Kosovo und über den religiösen Sänger Adem Ramadani gesprochen  alles in einem negativen Kontext. Was hat das mit der Realität der albanisch-muslimischen Gemeinschaft in der Schweiz zu tun?

Mehas Alija: Im Artikel wurden Themen vermischt, die keinerlei Bezug zum islamischen Leben der Albaner in der Schweiz haben. Unsere Gemeinschaften sind schweizerische Institutionen, die nach den Gesetzen dieses Landes funktionieren und regelmäßig mit den lokalen Behörden zusammenarbeiten. Wenn ein Imam oder ein religiöser Künstler als Gast an einer Veranstaltung teilnimmt, bedeutet das nicht, dass er die Haltung unserer Gemeinschaft vertritt. In einigen Fällen wurden sogar Personen erwähnt, die an den genannten Aktivitäten gar nicht teilgenommen haben.

Leider wird aus einigen Einzelfällen ein falscher „Trend“ konstruiert  als ob die gesamte albanische Diaspora konservativer würde. Wir fordern, dass jede Bewertung auf Fakten basiert und nicht auf Stereotypen.

Ich möchte eine Botschaft an alle unsere Moscheen in der Schweiz richten: Achtet darauf, wen ihr zu euren Veranstaltungen einladet. Ehrlich gesagt, es gibt Imame und Künstler, die unserem Alltag keinen guten Dienst erweisen. Wir müssen auch selbstkritisch sein.

Die Albanisch-Muslimische Gemeinschaft in der Schweiz (KMSHZ) unterstützt keine selektiven oder extremistischen Ansichten und lehnt jegliche Haltung ab, die das interreligiöse und interkulturelle Zusammenleben in der Schweizer Gesellschaft gefährdet.

Albinfo.ch: Wie gestalten sich die Beziehungen zwischen den islamischen Zentren und den lokalen Behörden?

Mehas Alija: Unsere Beziehungen zu den Schweizer Behörden sind gut und von Zusammenarbeit geprägt. Wir stehen in regelmäßigem Kontakt mit den Gemeinden, der Polizei, den Schulen und den Integrationsstellen in vielen Städten des Landes. Unsere Moscheen sind aktive Teile des gesellschaftlichen Lebens und leisten ihren Beitrag zu Dialog, Verständnis und Integration.

Ein konkretes Beispiel ist die albanische Moschee in Wil, die in den letzten Jahren Hunderte von Besuchergruppen empfangen hat  darunter Schulklassen, Vertreter von Institutionen, Vereinen, kirchlichen Gruppen und gewöhnliche Bürger. Kein Besucher, ob muslimisch oder nicht, wurde jemals gezwungen oder gebeten, beim Betreten der Moschee ein Kopftuch zu tragen. Alle werden mit Respekt und Gastfreundschaft empfangen, so wie es unsere religiöse und kulturelle Ethik verlangt.

Zu unseren jüngsten Kontakten gehört auch ein offizielles Dankesschreiben der Stadt Wil, die die Zusammenarbeit und Offenheit des Moscheevorstands und des Imams Bekim Alimi gegenüber der breiten Öffentlichkeit ausdrücklich gewürdigt hat. In demselben Geist handeln auch die anderen im Artikel erwähnten Moscheen.

Dies sind Fakten, die die Realität unseres islamischen Lebens in der Schweiz zeigen: ein offener, respektvoller und integrierter Islam, der ein natürlicher Bestandteil der schweizerischen und europäischen Gesellschaft ist. Wir laden alle  Journalisten wie Bürger  ein, uns zu besuchen, die Realität aus nächster Nähe zu sehen und sich nicht mit einseitigen Interpretationen zufriedenzugeben. Wir sind Teil der Schweiz, und die Schweiz ist Teil von uns, betonte abschließend Mehas Alija, Präsident der Albanisch-Muslimischen Gemeinschaft in der Schweiz, im Gespräch mit Albinfo.ch.

Irfan Agushi

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