Integration

Pater Zerai gibt jenen eine Stimme, die sonst nicht gehört werden

Der Priester Mussie Zerai, verantwortlich für die äthiopisch katholische Gemeinschaft in der Schweiz, sagt in seinem Interview für albinfo.ch: "Die Motive des Konflikts im Mittleren Osten liegen im Wunsch nach Macht und Kontrolle über die natürlichen Rohstoffe."

 

Geboren in Eritrea, ausgebildet in Italien und aktiv in der Schweiz, das ist Pater Mussie Zerai, christlicher Priester, der Eritrea als Sechzehnjähriger verlassen hatte, um in Italien und später in der Schweiz zu leben, wo er auch heute seine religiöse und humanitäre Arbeit ausübt. Im Gespräch mit albinfo.ch spricht Pater Zerai über sein Leben und seine Arbeit und legt gleichzeitig auch seine Meinung über die kritische Situation mit den Flüchtlingen in der ganzen Welt dar. Er wurde bekannt mit seiner Agentur Habeshia, die als Stimme derjenigen, die sonst nicht gehört werden, gilt. Eine Telefonnummer steht hunderten eritreischen Flüchtlingen, die auf offenem Meer gondeln, zur Verfügung. Zerai bedeutet diesen Menschen auch in den schwierigsten Augenblicken ihres Lebens Hoffnung.

Albinfo.ch: Können Sie uns etwas über Ihr Leben, Ihre Ausbildung und Arbeit erzählen?

Pater Mussie Zerai: Ich kam 1975 in Eritrea auf die Welt, ging dort zur Schule und lebte bis sechzehn dort. Dann ging ich nach Italien, wo ich arbeitete und studierte. Schon ab 1995 begann ich den Flüchtlingen, die vom Horn Afrikas her kamen, zu helfen. 2000 begann ich Philosophie und Theologie zu studieren. Später folgte die Ordination zum Priester und nach einem Jahr wurde ich zum Verantwortlichen für die äthiopisch katholische Gemeinschaft und die eritreischen Seelsorger bestimmt. Seit 2014 obliegen mir die Aufgaben des Koordinators der Katholischen Gemeinschaft der eritreischen Seelsorger auf europäischer Ebene. Die Agentur Habeshia gründete ich im Jahr 2006, sie gilt als Sprachrohr für jene, die keine Stimme haben.

Albinfo.ch: «Dieser Priester rettet Leben aus Distanz, mit einem Mobiltelefon.“ Diese Feststellung machte ein Schweizer Journalist anlässlich eines Interviews mit Ihnen. Könnten Sie unseren Lesern sagen, wie das funktioniert? 

Pater Mussie Zerai: Schon 2003 begann es damit, dass ich Hilferufe von Menschen erhielt, die sich irgendwo auf Schiffen und Booten im Mittelmeer befanden. Übers Telefon beginne ich, Informationen über die Anzahl Menschen, die sich an Bord befinden, zu sammeln. Ich frage sie nach dem Gesundheitszustand, wie viele von ihnen Kinder und Frauen sind und ob es vielleicht schwangere Frauen dabei hat. Jede Information ist wichtig, ich frage nach dem Schiff, welcher Art es ist, wo es sich befindet, also nach den Koordinaten, auch wenn es oft so ist, dass die Schiffe nicht von einem erfahrenen Fachmann gesteuert werden und die Leute deshalb nicht wissen, wo sie sich befinden. Oft sind die Menschen in Panik, was ihre Lage noch schwieriger macht. Danach leite ich diese unter schwierigen Bedingungen gesammelten Informationen an die italienische Küstenwache weiter. Ich gebe ihnen auch die Telefonnummer weiter, von der ich den SOS-Ruf erhalten habe, und fordere sie auf, diesen Menschen in Not zu helfen.

Albinfo.ch: Man könnte sagen, dass Sie zur „Ikone des Retters“ geworden sind. War es schwierig, das zu erreichen?

Pater Mussie Zerai: Ich fühlte mich nie als Ikone oder als Retter, ich kenne meine Grenzen, doch ich bin sicher, dass meine Stimme für viele Menschen Hoffnung und ein Symbol der Solidarität bedeutet. Das ist meine Aufgabe als Mensch, als Christ und als Priester. Andernfalls würde ich mich in einem grossen Konflikt mit meinem Gewissen, meinem Glauben und meinem Dienst befinden. Was wäre ich für ein Mensch, wenn ich mich nicht um jene kümmern würde, die leiden, die ihr Zuhause verlassen mussten und Schutz suchen? Kann ein predigender Christ so sein!?

Albinfo.ch: Jeden Tag verlassen immer mehr Menschen Afrika in Richtung Europa. Wo sehen Sie die Schuldigen für diese Situation?

Pater Mussie Zerai: Diese Menschen kommen, um nach Gerechtigkeit zu suchen, um gerecht und würdevoll behandelt zu werden. Dort wird mit Waffen aus dem Westen gekämpft, für die Interessen der westlichen Länder. Europa und die USA sind bereit, das Leben von Millionen Menschen zu opfern, um ihre politisch-militärischen und wirtschaftlichen Profite zu machen. Infolgedessen haben wir heute Millionen Flüchtlinge auf der ganzen Welt. Wir haben eine UNO, die von Vetos gelähmt wird. Sie kann nicht intervenieren und Gerechtigkeit herstellen. Wir brauchen eine von Grund auf erneuerte UNO, die ein neutraler Schiedsrichter wäre in dieser Welt, wo die Starken die Schwachen treten. Das muss sich ändern, mit einer revolutionären Veränderung.

Albinfo.ch: Es scheint, dass viele der Konflikte im Mittleren Osten die Folge von destruktiver Politik sind. Denken Sie, dass die unterschiedlichen Religionen in solchen Situationen eine negative Rolle spielen

Pater Mussie Zerai: In all diesen Konflikten wird der Glaube missbraucht. Der Konflikt im Mittleren Osten gründet einzig im Wunsch nach Macht und Kontrolle über die natürlichen Rohstoffe. Die alte Politik des „teile und herrsche“ ist das Ergebnis von Interventionen von aussen, die es auf die Ressourcen dieser Staaten abgesehen haben.

Albinfo.ch: Glauben Sie an eine Welt ohne Konflikte 

Eine Welt ohne Konflikte ist möglich. Sie wird dann möglich, wenn wir alle versuchen, Agenten der Gerechtigkeit zu werden. Sie wird nur dann erreicht werden, wenn die Grundlage der Beziehungen zwischen den Völkern Gerechtigkeit und Solidarität sein wird. Alle Probleme, die wir auf unserer Welt haben, sind das Ergebnis fehlender Gerechtigkeit in allen Bereichen des Lebens. Das Mass der Gerechtigkeit bist du selbst: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, was gut für dich ist, ist auch für die anderen gut, also tu es, gib es, teile es. Was schlecht ist für dich, ist auch für die andern schlecht, also tu es nicht.