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Haben Sie das Buch Meine geniale Freundin – Elena Ferrante gelesen

Ferrante schreibt unter Pseudonym und bleibt aus der Öffentlichkeit fern, in der Überzeugung, dass der Autor, sobald das Buch fertig ist, nicht mehr gebraucht wird...

Wenn wir an Neapel denken, fällt uns oft die beste Pizza ganz Italiens ein. Manchmal auch die italienische Mafia. Doch diese raue und schöne Stadt, eingebettet zwischen Vulkan und Meer, hat uns auch einen Edelstein der Literatur geschenkt: einen der bedeutendsten Romane des 21. Jahrhunderts. Gemeint ist Meine geniale Freundin (L’amica geniale) der rätselhaften italienischen Autorin Elena Ferrante. Dieses Buch wurde von der New York Times in einer Umfrage unter 503 zeitgenössischen Autorinnen und Autoren als das beste der letzten 25 Jahre ausgezeichnet.

Ferrante schreibt unter Pseudonym und meidet die Öffentlichkeit, aus der Überzeugung heraus, dass der Autor, sobald das Buch vollendet ist, nicht mehr gebraucht wird. Ironischerweise hat gerade diese Abwesenheit ihren Büchern eine noch tiefere Resonanz verliehen. Kritikerinnen und Kritiker sehen in der Hauptfigur Elena Greco häufig ein Alter Ego der Autorin, und eben dieses Gefühl der Unschärfe zwischen Wirklichkeit und Fiktion macht das Buch so fesselnd, dass uns die späten Nachtstunden noch immer mit dem Buch in der Hand antreffen.

Dieses Buch führt uns zurück zu den ersten Freundschaften. Jenen, die aufblühten, als wir einander von Gasse zu Gasse begleiteten und die durch ihre Intensität unauslöschliche Spuren in unserem Charakter und Gedächtnis hinterließen. Anhand des Lebens zweier Mädchen, Elena (Lenù) und Lila, entfaltet Ferrante meisterhaft die Themen Identität und sozialer Aufstieg. Der Konsumismus erscheint als Zeichen dieser Klassenbewegung, während Bildung als Privileg gilt – nicht als Recht für alle. Auch die Familiendynamik ist in dieser Realität präsent, in der Gewalt oft als gängigste Form der Kommunikation oder Konfliktlösung dient.

Für Leserinnen und Leser aus den albanischsprachigen Gebieten spricht dieses Buch in einer Sprache, die viele von uns kennen, ohne sie benennen zu können. Es gibt Momente und Herausforderungen, die Mut verlangen, Reue, die nach Vergebung ruft, und vor allem jene Augenblicke, in denen wir als Mädchen lebensprägende Entscheidungen treffen müssen – zwischen dem, was wir wollen, dem, was uns geboten wird, und dem, was die Gesellschaft von uns verlangt.

Lenù und Lila sind zwei gegensätzliche Welten: die eine folgsam und besonnen, die andere mutig und ungestüm. Ihre Freundschaft ist ein starkes Band, eine unerschütterliche Kraft im Leben beider  mal begleitet von Bewunderung und Neid, mal von Liebe und Enttäuschung.

Meine geniale Freundin begreift Freundschaft als eine zarte und komplexe Struktur, die häufig stärker ist als romantische Liebe. Ferrante legt mit verblüffender Leichtigkeit die Psychologie dieser beiden Figuren offen und öffnet uns  durch die Zeilen dieses Romans  ein Fenster, aus dem wir das Leben und die Gedanken der beiden Mädchen sehen.

Dieser Roman ist Teil der vierbändigen Reihe, bekannt als die „Neapolitanische Tetralogie“, zu der auch gehören: Der neue Nachname (Storia del nuovo cognome), Diejenigen, die fortgehen, und diejenigen, die bleiben (Storia di chi fugge e di chi resta) sowie Die Geschichte des verlorenen Mädchens (Storia della bambina perduta).

Zusammen zeichnen diese Werke ein außergewöhnliches Porträt des Italien der Nachkriegszeit und der Auseinandersetzung von Frauen mit einer patriarchalen Gesellschaft, die sie auf Schritt und Tritt prüft.

In einer Welt, in der Frauen oft als Rivalinnen gesehen werden, zwischen Lebensherausforderungen und sozialen Konstruktionen, die eigens für sie gewoben sind, erinnert uns Ferrante daran, dass die Freundschaft zwischen zwei Mädchen, zwischen zwei Frauen, eines der kostbarsten Dinge sein kann, die wir besitzen. Sie lädt uns ein, den Wegen von Lenù und Lila zu folgen – in der Hoffnung, dass wir irgendwo in ihrem Leben auch Splitter unseres eigenen finden

Pritë Bytyçi