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Schulzeugnisse haben ausgedient

Nils Landolt: "Zwar ist eine notenfreie Volksschule in der Schweiz noch nicht mehrheitsfähig, doch aus pädagogischer Sicht sprechen viele Gründe für eine ziffernfreie Beurteilung"

Kurz vor den Herbstferien sind bereits die ersten Prüfungsnoten gesetzt worden und mit jeder weiteren Note nimmt auch der Leistungsdruck in der Schule stetig zu. Besonders für Jugendliche auf der Oberstufe, denn für gute Noten sind Schülerinnen und Schüler bereit Blut zu schwitzen, nur um später im Bewerbungsdossier mit sehr guten Zeugnisnoten glänzen können.

Doch sind Schulzeugnisse auch wirklich ein Garant für eine erfolgreiche Nachwuchswahl bei den Lehrbetrieben? „Nein! “, sagt Swisscom: „Mensch vor Dossier.“ Diesen Sommer befreite das namenhaften IT-Unternehmen Jugendliche komplett von Schulzeugnissen im Bewerbungsdossier. Der neue Slogan lässt jedoch nicht nur jugendliche Herzen höherschlagen.

„So ein Trend geht in die richtige Richtung.“, findet auch der Glarner Primarlehrer Nils Landolt beeindruckt. „Immer mehr Unternehmen setzen auf andere Kriterien für offene Lehrstellen im Betrieb. Ihre Erfahrungswerte in der Praxis zeigen, dass selbst die Niveauklasse im Oberstufenzeugnis kritisch zu betrachten sei. Noten sagen manchmal mehr über die Lehrpersonen aus, als über die künftigen Lehrlinge selbst.“ Herr Landolt führt im Interview mit Albinfo.ch aus, wieso er nach 10 Jahren mit der Arbeit als Volksschullehrer aufgehört hat und worüber sein neues Buch „Schulwandel“ handelt.

albinfo.ch: Um keine Talente zu übersehen, wollen zukunftsorientierte Lehrbetriebe ganz bestimmte Fähigkeiten und nicht mehr Ziffern von 1 bis 6.  Hat das Volksschulzeugnis wirklich ausgedient?

Nils Landolt: Zwar ist eine notenfreie Volksschule in der Schweiz noch nicht mehrheitsfähig, doch aus pädagogischer Sicht sprechen viele Gründe für eine ziffernfreie Beurteilung. Denn obwohl Volksschule und Noten seit Anbeginn Hand in Hand einhergegangen sind, so stand das Machtinstrument aller Lehrpesonen (Noten) auch von Beginn an in der Kritik. Die Rede ist nicht nur von unzufriedenen Eltern, sondern auch von notenkritischen Vertretern und Vertreterinnen verschiedener Teildisziplinen der Pädagogik.

Auch ich teile diese Ansicht, dass Noten aus lern- und entwicklungspsychologischer Sicht ein sehr ungenaues und restriktives Mittel sind, um die tatsächlichen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler widerzugeben. Beispielsweise hat die Note 5 für einen Deutsch-Vortrag von Schüler zu Schüler, von Klasse zu Klasse und von Schule zu Schule ein anderes Gewicht. Die Vortragsnote 5 steht auch in direkter Abhängigkeit zur Klassenkonstellation, der Unterrichtsqualität und sogar von den privaten und schulischen Ressourcen des Kindes bzw. des Jugendlichen. Wenn man in unserem Fall (mit der Note 5) auch noch die individuellen Kriterien der jeweiligen Lehrperson miteinbezieht, sieht man eindeutig, wie komplex und multifaktoriell eine Note konstruiert sein kann. Fachliche und überfachliche Fähigkeiten von Schülerinnen und Schüler entwickeln sich nämlich sehr komplex bzw. dynamisch und genau diese Tatsache durchschauen immer mehr Lehrbetriebe und setzen dadurch auf neue Kriterien für die Rekrutierung ihrer zukünftigen Teammitglieder.

 

albinfo.ch: Haben Sie auch eine Alternative zu Ihrer Notenkritik und von welchen neuen Kriterien reden wir konkret?

Nils Landolt: Pädagogische Alternativen gibt es bereits schon längst. Positive Beispiele wären die Sudbury Valley Schulen, Rudolf Steiner Schulen oder allgemein die Reggio-Pädagogik. Auch an unserer Stiftung www.schulwandel.ch machen wir uns für die individuelle Betrachtung der Lerntwicklung eines Kindes bzw. Jugendlichen stark.

Gemäss Adecco, einer der weltgrösste Personaldienstleister mit Sitz in Zürich, liegt die Halbwertszeit von Zeugnissen bzw. Diplomen bei 3 Jahren. Die Rede ist nicht nur von der Volksschule, sondern auch von der Tertiärstufe, der obersten Stufe unseres Bildungssystems. Pauschal kann man also sagen, dass wenn man nach einem Studium raus in den Markt geht, bereits die Hälfte der Modulinhalte des Studiums irrelevant für die Marktbedürfnisse geworden sind. Mit so einer dynamischen Entwicklung kann kein Notenzeugnis mithalten. Denn das aktuelle Bildungssystem ist sehr träge und misst nicht nur sehr ungenau, was Schülerinnen und Schüler leisten, es setzt auch oft die falschen Kriterien. Darum verlassen sich immer mehr Lehrbetriebe nicht nur auf Schulzeugnisse, sondern man betrachtet die Anwärterinnen und Anwärter individuell und nach eigenen Kriterien  für die offene Lehrstelle. In unserer Stiftung erachten wir folgende vier Kriterien für zukunftsweisend, nämlich Kreativität, kritisches Denken, Kollaboration und Kommunikation. Was damit gemeint ist, wird auch auf unserer Plattform genauer definiert. www. schulwandel.ch

albinfo.ch: Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie an die Zeugnisnoten aus Ihrer eigenen Schullaufbahn zurückdenken?

Nils Landolt: Meine Primarschulzeit war sowohl sehr lehrreich aber auch aufwühlend zugleich. Als kleiner Junge hatte ich von Beginn an Mühe mich Autoritäten, sprich Lehrpersonen, unterzuordnen. Schulregeln beeindruckten mich wenig, ich begann sehr schnell Regeln zu hinterfragen und mit den Erwachsenen über Regeln zu diskutieren. So lotete ich die Grenzen in der Schule aus und das Ganze nur um am Ende des Tages, die Regeln doch nicht einzuhalten. Obwohl ich in einer bildungsnahen Familie gross geworden bin, mein Vater war selbst Oberstufenlehrer und meine Mutter Ärztin, brachte mir dieses Privileg, am Ende meiner eigenen Primarschulzeit, wenig bei den Noten. Ich wurde nach der 6. Klasse nur knapp in die Realklasse eingeteilt.

Nach dem ersten Jahr auf der Oberstufe änderte sich jedoch meine Einstellung zur Schule schlagartig, denn ich begann einzusehen, wie wichtig die letzten Schuljahre sind. Durch eine Aufnahmeprüfung gelangte ich in die Sek A und landete bei meinem Vater in der Klasse. Die Doppelrolle zwischen meinem Vater als Lehrer und mir als Schüler erwies sich als sehr anspornend für meine Schulleistungen. Am Ende der Oberstufenzeit schaffte ich es sogar aufs Gymnasium zu gelangen. Durch die Matura folgte der Bachelor bei der Pädagogischen Hochschule Zürich. Nach der Ausbildung zum Primarlehrer arbeitete ich noch 10 Jahre auf diesem Berufsfeld. Heute bin ich zusammen mit meiner Ehefrau für die Stiftung Schulwandel aktiv und wir machen uns durch unsere Arbeit für eine Schule stark, die das Lernen der Kinder selbstbestimmt ermöglicht. www.lernhaussole.ch
Die Tatsache, dass ich zusammen mit meiner Ehefrau Ende Jahr ein gemeinsames Buch über Bildung und Schulwandel herausgegeben werde, lässt mich entspannt und mit einem breiten Grinsen im Gesicht, an die Zeugnisnoten aus meiner eigenen Schulzeit zurückblicken.

Denn nicht alles was schlecht ist schadet auch. Ich habe trotz unbefriedigenden Schulnoten heute zu meinem Traumberuf gefunden und genau diese Chance wünsche ich allen Kindern und Jugendlichen, die gerade noch beschult werden bzw. den Übergang aus der Volksschule noch vor sich haben.

Diesen Freitag könnt ihr Nils Landolt vor Ort kennenlernen, die Redaktion bietet noch drei Freitickets.

(linkedin.com/in/nilslandolt): https://www.schulwandel.ch/veranstaltungen/trammuseumbarcamp

Kontakt: [email protected]

 

Link zum Buch: https://www.verlagskv.ch/produkte/schulwandel