Integration

Migranten haben Potenziale – wie können sie genutzt werden?

Das Potenzial der Migration war das Thema der Konferenz der EKM, an der zahlreiche Migrationsforscherinnen, Sozialarbeiter, Künstlerinnen und Politiker aus der Schweiz, Deutschland und Frankreich teilnahmen.

 

Vor zwanzig Jahren arbeitete er mit jungen Heranwachsenden der Banlieues, wie jene Vorstadtviertel auf Französisch heissen, die vor einigen Jahren wegen ihrer Gewaltausbrüche bekannt wurden. Diese Jugendlichen mit Migrationshintergrund, aufgewachsen in einer Gesellschaft, die keine Perspektiven bietet und sie nicht als Dazugehörige behandelt, lebten am Rande des Elends und waren so leichte Beute für die Kriminalität.

“Als ich sie neulich wieder besuchte, zwanzig Jahre nachdem ich mit ihnen gearbeitet hatte, sah ich, dass es die meisten von ihnen geschafft hatten: Sie hatten Familien gegründet und viele von ihnen arbeiteten an respektablen Arbeitsplätzen” erzählt der Soziologieprofessor der Universität Paris VIII, Michael Kokoreff, Podiumsteilnehmer an der Jahreskonferenz der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen (EKM), die am 22. Oktober in Bern stattfand.

Die Entwicklung dieser jungen Menschen, die meisten arabischer Herkunft, zeigt, dass Migrantinnen und Migranten Potenzial haben und entgegen zahlreicher Hindernisse ihren Weg finden und dass es ihnen, dank einem starken Willen zum Vorwärtskommen, gelingt, ihr eigenes und das Schicksal ihrer Familien selbst in die Hände zu nehmen.

Ebendieses Potenzial der Migration war das Thema der erwähnten Konferenz, an welcher viele Migrationsforscher, Sozialarbeiterinnen, Künstler und Politikerinnen aus der Schweiz, Deutschland und Frankreich etc. teilnahmen.

Kokoreff: Verhinderte und unterdrückte Potenziale

Nach Meinung des französischen Soziologen Kokoreff werden den Migranten in Frankreich viele Steine in den Weg gelegt, die sie daran hindern, ihr ganzes Potenzial zu entfalten. “In Frankreich haben die Migrantinnen und ihre Kinder nicht nur die schlechtesten Arbeitsplätze, sondern sie müssen auch oft eine harte rassistische und diskriminierende Behandlung über sich ergehen lassen. Auf diese Weise werden ihre Potenziale gebremst und unterdrückt”, ist Kokoreffs pessimistischer Standpunkt zur Situation der Ausländer in seinem Herkunftsland.

Der deutsche Schriftsteller bulgarischer Herkunft Ilja Trojanow befasste sich in seinem Beitrag damit, wie sich der Erfolg der Annäherung zwischen den Kulturen zeigt. Das Verborgene liegt in der Aneignung der Werte der anderen, wobei wir diese als Bereicherung und Veränderung unserer eigenen Werte anschauen. Trojanow belegte dies mit der Aussage, dass die europäischen Künste heute unvorstellbar wären ohne dass Werte aus anderen, entfernten Kulturen “eingeschmuggelt” worden wären. In diesem Sinn erwähnte er die grossen europäischen Schöpfer bildender Kunst wie Gauguin, van Gogh etc., die ihre Quellen und ihre Inspiration in weit entfernten und exotischen Ländern fanden.

Das Beispiel Neuenburgs

Der erste in der Schweiz, der eine Integrationsfachstelle führte und selbst ausländischen Ursprungs war, ist Thomas Facchinetti, italienischer Herkunft, geboren in Deutschland, heute Stadtpräsident von Neuenburg. Er schilderte in seinem Vortrag die Besonderheiten, die seine Stadt und seinen Kanton von den anderen unterscheiden. Der erste und wesentliche Faktor, der den Unterschied begründet, ist das Stimm- und Wahlrecht der Ausländerinnen und Ausländer in diesem Kanton. Unabhängig davon, dass dieses Recht auch hier nicht optimal genutzt wird, stellt die Tatsache, dass jede oder jeder Fünfte im Neuenburger Kantonsrat ausländischer Herkunft ist, einen Wert für sich allein dar.

Facchinetti unterstrich, dass mehr als die Hälfte der Unternehmen, die sich heute in Neuenburg eintragen lassen, im Besitz von Ausländern sind.

Für die Schweizer Soziologin Anne Juhasz Liebermann beginnt die Diskriminierung der Ausländer im Augenblick, wo die Lehrer die Schüler über die weitere Schulbildung orientieren. Dieser Moment kommt zu früh und das schadet den Kindern ausländischer Herkunft, meint Liebermann. Denn je früher die Auswahl getroffen wird, desto grösser ist ihrer Ansicht nach die Wahrscheinlichkeit, dass anstelle der Fähigkeiten der Kinder deren soziale Herkunft bewertet wird. Und das geschieht mit Bestimmtheit zum Nachteil der Migranten.

 

Im Namen der “Flexibilität” werden die ausländischen Schulkinder an der Entwicklung ihrer Potenziale gehindert

Juhasz-Liebermann betonte im Weiteren, dass die Lehrer die Kinder ausländischer Herkunft oft anweisen, sich in der Berufswahl “flexibel” zu zeigen. Das bedeutet mit anderen Worten, dass sie nicht auf der Wahl anspruchsvoller Berufe beharren sollten sondern sich mit jenen zufrieden geben, die leichter erreichbar sind. Von dieser Art “Hilfe” sind Secondos aus dem Balkan mehr betroffen als etwa solche aus Italien, sagte Juhasz. Sie stellte auch das Konzept der “Nutzung der Potenziale der Migranten” in Frage, das das Thema der Konferenz war. “Nutzung” ist laut ihr ein problematischer Ausdruck, der die Migranten als zu nutzendes Objekt ins Auge fasst. “Durch wen?!”

Die bekannte Schweizer Regisseurin kroatisch-bosnischer Herkunft Andrea Staka befasste sich mit dem, was sie “übertriebenes Engagement für Integration” nannte, wie es manchmal vor allem in Schulen zu beobachten sei. “Angesichts all dieser den Schülern und ihren immigrierten Eltern gewidmeten Angeboten für Übersetzung, Beratung etc. kommt mir die Frage in den Sinn: ‘Werden diese Menschen etwa für dumm gehalten?!’ Staka setzte sich dafür ein, dass den Eltern durch Sprachkurse und andere Erleichterungen Integration im Voraus ermöglicht wird, aber dass sie nicht wie Sonderfälle behandelt und zu Passivität verleitet werden.

Medien der Migranten

Für den Herausgeber der Online-Zeitschrift “Migazin” aus Deutschland, Ekrem Şenol, konnten sich die Migranten und er selbst als Migrantenkind in den Standardmedien Deutschlands, die über sie aus deutscher Perspektive schrieben, nicht wiedererkennen. Das brachte ihn dazu, selbst eine Ausdrucksmöglichkeit als Migrant aus der Perspektive der Migranten zu schaffen, und zu diesem Zweck gründete er mit Mitarbeitern “Migazin”. Die Zeitschrift hat viele prominente Mitarbeiterinnen aus dem gesellschaftlichen, politischen und künstlerischen Leben Deutschlands und beschränkt sich nicht nur auf Autoren ausländischer Herkunft, betonte Şenol im Gespräch mit albinfo.ch.

Şenol bemerkte auch, dass es unter dem Druck der Kommerzialisierung und der zunehmenden Stimmung gegen Ausländer in Deutschland immer weniger Raum für qualitativen und objektiven Journalismus gebe. Sogar die grossen traditionellen Zeitungen fielen diesem Druck teilweise zum Opfer, sagte er. In den Online-Medien zeige sich ein alarmierender Zustand, wo wir geradezu überschwemmt würden von skandalösen Kommentaren, die die Norm gegen Rassismus verletzten. Er machte sich für einen professionelleren Umgang mit und für die Vermeidung von Gesetzesverletzungen stark, die unter dem Deckmantel der “Meinungsäusserungsfreiheit” geschähen.

Den Abschluss machte der Präsident der EKM, Walter Leimgruber, mit einer Zusammenfassung, wobei er die Beiträge aller Teilnehmerinnen würdigte, die mit ihren Ansätzen aus verschiedenen Perspektiven Licht auf das Thema der Konferenz, die Nutzung von Potenzialen der Migranten, gebracht hatten.