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Weltlehrertag 2022 im Schatten der Bildungskrise

Zusammen mit albinfo.ch beleuchtet Herr Lulaj die Thematik im Kontext der Schweizer Volksschule und zeigt interessierten Leserinnen und Leser auf, weshalb man bei Bildungsbedürfnissen immer von Kind zu Kind differenzieren muss

Gemäss einer Erhebung der UNESCO, Initianten des Weltlehrertages fehlt weltweit jeder zehnten Lehrkraft die entsprechende Ausbildung und im gleichen Atemzug hält UNESCO (Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur) fest, dass qualifizierte Bildung nur durch genug qualifizierte Lehrerinnen und Lehrer möglich sei. Taulant Lulaj ausgewiesene und erfahrene Lehrperson aus Zürich nickt mit ernster Miene und zeigt Verständnis für die alarmante Situation. Zusammen mit Albinfo beleuchtet Herr Lulaj die Thematik im Kontext der Schweizer Volksschule und zeigt interessierten Leserinnen und Leser auf, weshalb man bei Bildungsbedürfnissen immer von Kind zu Kind differenzieren muss.

albinfo.ch: Herr Lulaj was ist Ihr Statement zum diesjährigen Motto des Weltlehrtages?

Taulant Lulaj: Ich denke, dass die gegenwärtige Situation der Schweizer Volksschule eine besondere ist. Die Schule steht am Scheideweg und es braucht dringend Lösungen damit die Schule ihren gesellschaftlichen Auftrag auch in Zukunft wahrnehmen kann. Die gegenwärtige «Krise», welche insbesondere durch den Lehrermangel geprägt ist, erachte ich aber auch als Chance sofern ihre Akteure auch wirklich gemeinsam nach gangbaren und sinnvollen Lösungen suchen. Nehmen wir das Motto des Weltlehrertags wörtlich, so müsste man den Bildungsbegriff ganz grundsätzlich hinterfragen. Was brauchen Kinder und Jugendliche wirklich, damit erfolgreiche gesellschaftliche Integration möglich wird. Auch auf dieser kleineren, unmittelbareren Ebene sind positive Veränderungen durch eine einzige Lehrperson möglich.

Im Gespräch mit Eltern und Elternorganisationen fällt mir vermehrt auf, dass immer mehr Eltern über eine Privatschule oder Homeschooling (Schule zuhause) nachdenken. Das macht mir persönlich Sorgen, jedoch kann ich die Beweggründe und Ängste der Eltern auf der anderen Seite auch nachvollziehen. Der Mangel an ausgebildeten Lehrpersonen wird sich in den kommenden Jahren verschärfen, daher müssen meiner Meinung nach die Pädagogischen Hochschulen, die Kantone und die Politik in die Pflicht genommen werden. Eine Volksschule die versagt, gefährdet nicht zuletzt auch unseren sozialen Frieden und unseren Wohlstand in der Schweiz.

albinfo.ch: Herr Lulaj laut Ihrer Homepage www.dua-beratung.ch haben Sie neben Ihrer Ausbildung als Lehrperson auch einen Master in Special Needs Education. Warum muss man sich auf Master-Niveau spezialisieren um mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen kompetent arbeiten zu können? Kinder mit besonderen Bedürfnissen in der Schule brauchen doch lediglich einfachere Aufgaben und weniger Schule, wie erklären Sie sich in diesem Fall die Notwendigkeit zur beruflichen Spezialisierung.

Taulant Lulaj: Mit dem notwendigen sonderpädagogischen Wissen über Lernschwächen oder Verhaltensschwierigkeiten kann der Unterricht und die Förderung ganz anders gedacht werden. Durch eine ressourcenorientierte Förderdiagnostik weiss man wo ein Kind wirklich steht und entwickelt mittels eines Förderplanung wohin die Lernreise eines Kindes gehen soll damit es in seiner persönlichen und schulischen Entwicklung weiterkommt. Das sind nicht zwingend «einfachere Aufgaben» oder «weniger Schule». Die kompetente Auswahl passender Aufgaben, die der geplanten Förderung dienen und dem Lernstand des Kindes angepasst sind hierbei essenziell damit ein Kind genügend heraus- jedoch nicht überfordert wird. «Weniger Schule» sehe ich in den seltensten Fällen als Lösung, da dies insbesondere diese Kinder, die sich ja irgendwie bereits stigmatisiert fühlen, der sozialen Integration in der Klasse beraubt. Man ist kein Teil der Klasse, man ist dann zeitweise einfach nur Gast. Dies muss unter allen Umständen verhindert werden. Letztlich wollen wir Menschen doch einfach dazugehören können.

Man stelle sich eine fehlende sonderpädagogische Kompetenz so vor: Wir würden mit einem Leiden am Arm auch nicht zum Arzt gehen wollen, der mal irgendwo beginnt zu behandeln und Medikamente zu verabreichen bis er nach Monaten auf die Idee käme sich den Arm mal genauer anzuschauen und da punktuell anzusetzen. Wir wären vielleicht bereits nach dem ersten Termin nie wieder zu diesem Arzt hin, in der Schule haben Kinder und Jugendliche diese Wahl nicht. Diese lassen sich das mit sich machen oder rebellieren und bleiben so erst recht auf der Strecke.

albinfo.ch: Auch im Gespräch vor dem Interview erzählten Sie von Ihrer Beobachtung, dass manche Eltern sich weigern Hilfe von der Schule anzunehmen. Anderseits gibt es Eltern, die ungeduldig werden falls bei Ihrem Kind schulischer Fördeberdarf erkannt wird, jedoch die Kinder auf eine Warteliste der Schule gestellt werden, weil beispielsweise LogopädenInnen, HeilpädogenInnen oder DaZ-Lehrpersonen fehlen oder jene Fachlehrpersonen bereits volle Klassenzimmer haben. Bestimmte Eltern greifen auf privatem Weg zu externen Lehrpersonen um den besonderen Bedürfnissen ihrer Kinder nachzugehen. Wie erklären Sie sich das diese Diskrepanz? 

Taulant Lulaj: Ich vermute, dass dies stark mit der eigenen Schulkarriere und dem kulturellen Hintergrund zu tun hat. Die Generation der albanischen Diaspora, die bereits Kinder im schulfähigen Alter hat, musste noch das sozialistische Schulsystem Jugoslawiens durchmachen. Da war das Verhältnis per se schon assymetrisch, da die Schule im Dienste des sozialistischen Regimes war. Man durfte sich glücklich schätzen, wenn die Eltern so wenig wie möglich mit der Schule zu tun hatten. In der Schweiz ist es aber wichtig, dass es eine Kooperation oder mindestens einen Dialog zwischen Eltern und Lehrpersonen gibt. Nur so kann gemeinsam für das Kind mehr erreicht werden. Kontraproduktiv ist, wenn die Eltern oder Lehrpersonen nichts voneinander halten. Das bringt ein Kind, welches ja sowohl seine Eltern als auch seine Lehrperson mag in einen unheimlichen Loyalitätskonflikt.

Auf der anderen Seite sind viele Eltern aber auch «gebrannte Kinder» da sie insbesondere bei Verhaltensauffälligkeiten sehr oft von Lehrpersonen kontaktiert werden. Da ich selbst Vater bin, würde mich das in dieser Lage selbst unheimlich stressen. Würde ich das schweizerische Bildungssystem nicht kennen, umso mehr. Der angesprochene Lehrermangel verschärft diese Situation noch, da den Lehrpersonen häufig auch ausreichend Wissen fehlt, wie mit Störungen oder besonderen (Bildungs-)Bedürfnissen im Unterricht umzugehen ist. Die Folge sind ständige Sanktionen und Schulausschlüsse, die wenig bis nichts bringen oder gar, dass das Kind in eine Sonderschule kommt.

Der Mangel an Lehrpersonen ist schlimm genug, der Mangel an sonderpädagogischen Fachpersonen wie SonderpädagogInnen, LogopädInnen oder DaZ-Lehrpersonen ist eine Tragödie. Die schwächsten Glieder des Schulsystems leiden unter dieser Situation, was sich auf Generationen hinaus rächen dürfte. Unter dem gegenwärtigen Mangel verstehe ich dann auch Eltern die auf solche Massnahmen verzichten. Wie das angesprochene Beispiel mit dem Arzt, muss jemand wissen was er da tut, sonst  hat das Kind den «Stempel» als Förderschülerin oder Förderschüler auf lange Zeit hinaus und nichts wurde gewonnen. Die Schulen braucht angesichts dieser Situation von aussen dringend Unterstützung, was wir im sonderpädagogischen Bereich mit DUA Beratungen bieten.

albinfo.ch: Gibt es so was wie eine Erfolgsgeschichte mit einem Schüler, einer Schülerin mit besonderen Bedürfnissen, welche durch die Ressourcen der Schule zu ihrem individuellen Schulerfolg gelangte? 

Taulant Lulaj: Das gab es in meiner Karriere als Klassenlehrperson und Sonderpädagoge definitiv. Neben dem Fachwissen und der sonderpädagogischen Förderung möchte ich eines hervorheben: Die vorurteilslose und wertschätzende Sicht auf diese Kinder und Jugendlichen. Meist haben diese jungen Menschen unheimliche Ressourcen, an die man ohne diese Sichtweise nicht herankommen würde. Ich hatte Schülerinnen und Schüler die Eltern hatten, die Schichtarbeiten ausführten. Diese Jugendlichen sorgten dafür, dass ihre jüngeren Geschwister pünktlich aufstanden und für die Schule bereit waren. Während der Mittagszeit kümmerten sie sich ganz alleine um das Mittag- und Abendessen. Neben der Schulzeit betreuten und verpflegten sie ihre Geschwister und gingen verantwortungsvoll mit dem Essensgeld um damit es für den Tag reicht. Diese Jugendlichen darf man beispielsweise nicht als unzuverlässig beschreiben, nur weil unter dieser riesigen Verantwortung hier und da etwas Schulisches mal auf der Strecke bleibt. Zeigt eine Lehrperson, dass ihm das Kind oder der Jugendliche wichtig ist und der Lernende spürt das, ist enormes Potenzial möglich. Erfolg ist für mich dann, wenn alle gerne in die Schule kommen und dazugehören.

Der sichtbarste Erfolg wird nach der obligatorischen Schulzeit deutlich. Im Lehrbetrieb zählen persönliche Attribute und Eigenschaften mehr. Da können sich diese Schüler beweisen. Schulisch sind sie natürlich auf weitere Förderung angewiesen, während der gesamten Schulzeit haben sie ein Anrecht darauf, kaum ist die Schule vorbei, gibt es diese Hilfe nicht mehr, obwohl die Herausforderungen und der ständige Rollenwechsel vom Lehrling als Arbeitnehmenden und in der Berufsschule als Schüler ihnen extrem viel abverlangen. Mit www.myndset.ch wollen wir sonderpädagogische Förderung und Begleitung auch während der Lehrzeit sicherstellen. Die Ergebnisse bislang sind sehr vielversprechend.

albinfo.ch: Was wäre aus Sicht eines Kindes ein wünschenswerter Umgang von Eltern mit dem  “besonderen Bedürfnissen” ihrer eigenen Kinder und warum?

Taulant Lulaj: Wichtig ist, dass diese Tabuisierung aufhört und man sich nicht vor der Tatsache verschliesst, dass dieses Kind dringend Unterstützung braucht. Eine so aufwendige Selbstsabotage belastet auf Dauer jede Familie. Wichtiger ist es die Situation anzuerkennen und trotzdem für das Kind immer da zu sein. Weder die Eltern noch das Kind können etwas dafür und das hat auch nichts damit zu tun, dass man als Elternteil irgendwo in der Erziehung versagt hätte. Die Anerkennung ist der erste Schritt, als nächstes muss man wissen, wie damit umzugehen ist und wo man nötigenfalls Hilfe kriegt. Mit www.myndset.ch einem sonderpädagogischen Berufsintegrationsangebot unterstütze ich Jugendliche mit besonderem Förderbedarf bei der Suche und während der gesamten Lehre. Insbesondere Eltern mit Migrationshintergrund kennen diese wertvollen Unterstützungsangebote, wie bspw. die Unterstützung durch die IV-Berufsberatung überhaupt nicht. Diesen Eltern möchte ich gerne kostenlos dabei helfen, da dies für mich eine Herzensangelegenheit ist und ich tagtäglich sehe, was erst durch diese Unterstützung bei den Jugendlichen möglich wird.

Was ist wichtiger? Den Anschein zu wahren, dass alles in Ordnung ist, während das Kind ständig nur Misserfolge hat oder dass das Kind vielleicht ein Handicap hat, aber einen Umgang damit lernt und im Leben erfolgreich wie jedes andere sein kann? Ich möchte Eltern dabei gerne unterstützen.