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Vom Saisoner auf dem Bau zum Dozenten an der PH Schwyz

Naxhi Selimi stieg vom Saisoner im Bau zum Dozenten an der Pädagogischen Hochschule in Schwyz auf

Wenn es so etwas, wie den american dream (vom Tellerwäscher zum Millionär) in der Schweiz geben würde, dann spiegelt die Berufsbiografie von Naxhi Selimi dies am besten für Schweizer Verhältnisse. Naxhi Selimi arbeitete sich vom Saisoner im Bau und im Reinigungswesen schrittweise zum Dozenten für Deutsch an der Pädagogischen Hochschule in Schwyz auf.

In einem mit ihm geführten Interview Mr. Selimi spricht über seinen beruflichen Weg in der Schweiz, über das Schweizer Bildungssystem, die spezifischen Probleme, mit denen Schüler und Familien ausländischer Herkunft während der Ausbildung konfrontiert sind, etc.

albinfo.ch: Herr Selimi, können Sie uns etwas zu Ihrem Werdegang und Ihrer Erfolgsgeschichte als Migrant in der Schweiz sagen?

Naxhi Selimi: Ich stamme aus Nordmazedonien und habe nun mehr als die Hälfte meines Lebens in der Schweiz verbracht. Mein Werdegang ist unspektakulär. An der Uni Prishtina in Kosovo habe ich Sprach- und Literaturwissenschaften studiert. Hier in der Schweiz bildete ich mich zum Primar- und Gymnasiallehrer aus. An der Uni Oldenburg in Deutschland promovierte ich in Erziehungswissenschaften, an der Uni Skopje in Nordmazedonien in Kultur- und Literaturwissenschaften. Die ersten vier Jahre als Saisonnier in der Schweiz arbeitete ich als Hilfskraft in der Reinigung und auf dem Bau, danach als amtlicher Dolmetscher in Bern, Primarlehrer in Zürich, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bildungsdirektion Zürich, Oberassistent an der Uni Fribourg und seit 2014 als Deutschdidaktiker im Kanton Schwyz. Sprachen und Bildung sind zwei Bereiche, die mein Berufsleben seit über dreissig Jahren prägen. Sprachen sind für mich facettenreich und faszinierend. Die Bildung geht alle an und zählt zu den wichtigsten Ressourcen der Schweizer Gesellschaft. Daher ist es für mich ein Privileg, im Sprach- und Bildungsbereich einen Beitrag zu leisten. Mein Berufsweg in der Schweiz ist eher untypisch, entspricht aber demjenigen eines Menschen mit Migrationshintergrund, der es in der neuen Heimat mit Fleiss, Disziplin, Ausdauer und Neugier weitergebracht hat: Hilfskraft, Übersetzer, Lehrer, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Oberassistent, Professor.

albinfo.ch: Was können Sie uns über die Geschichte der Volksschule in der Schweiz erzählen? 

Naxhi Selimi: Eine ausführliche Schilderung der historischen Entwicklung der Schweizer Volksschule würde den Rahmen dieses Interviews sprengen. Deshalb beschränke ich mich auf einige wenige Eckwerte: Die heutige Volksschule hat ihren Ursprung im 17. Jahrhundert. Allerdings war sie zunächst konfessionell geprägt. Erst gegen Mitte des 19. Jahrhunderts etablierte sie sich als staatliche Volkschule. 1832 wurde ein Unterrichtsgesetz verabschiedet. Danach bekam die Volkschule einen Lehrplan und obligatorische Lehrmittel. Somit wurde die Volkschule zum Rückgrat des Schulsystems und fand Niederschlag im gesellschaftlichen Leben. Von da an galt eine allgemeine Schulpflicht von sechs Jahren, gleichermassen für Mädchen und Jungen. Zunächst sahen die kantonalen Vorgaben vor, in der Volksschule Religion, Lesen, Schreiben, Rechnen und Singen zu unterrichten. Der Schulstoff, der dann auch Realienfächer wie etwa Geschichte, Geografie und Naturkunde umfasste, wurde gewissermassen säkularisiert und zur Allgemeinbildung entwickelt. Der Staat finanzierte die Elementarbildung, wobei es hierbei je nach politischer und wirtschaftlicher Entwicklung zum Teil grosse Unterschiede nicht nur in der Schweiz, sondern europaweit gab. In der Schweiz entwickelten beispielsweise die Kantone das Schulwesen weitgehend autonom, weil der Bund bei der Gründung im Jahr 1848 keine Kompetenzen erhielt, die Volksschule zu steuern und aufzubauen.

Mit der zunehmenden Industrialisierung, Urbanisierung und gesellschaftlichen Modernisierung wurde die Volksschule zu einem breit abgestützten System entwickelt. Hierzu ist zu erwähnen, dass die damaligen Verhältnisse hinsichtlich der Qualität keineswegs mit der heutigen Volksschule der Schweiz gleichgesetzt werden dürfen: die Klassen waren viel grösser als heute, die Klassenzimmer ganz anders ausgestattet, die Lehrkräfte unterschiedlich bezahlt und fortgebildet. Im Unterschied zu heute war die Volkschule damals nicht einheitlich organisiert. Erst im 20. Jahrhundert fand das Schulsystem mehr und mehr Rückhalt in der Gesamtbevölkerung. Mit der Übernahme der Bildungsversorgung durch den Staat wurden die Lehrkräfte in Lehrerseminaren ausgebildet, und die konfessionelle Schulaufsicht endete. Die eingesetzten Schulmeister hatten den Auftrag, schulpflichtigen Kindern weltliche Bildungsinhalte und bürgerliche Werte zu vermitteln.

Im Laufe der letzten hundert Jahre entwickelte sich die Volksschule zu einer zentralen Säule des Bildungssystems, das durch Forschung, Fachdiskussionen, Kooperationen und Wettbewerb den gesellschaftlichen Gegebenheiten in einer globalisierten Welt Rechnung trägt. Allerdings wäre die Schweizer Volksschule und somit die Bildung ohne die grosse Leistung namhafter Persönlichkeiten wie etwa Pestalozzi, Rousseau, Piaget oder Aebli nicht zu dem geworden, was sie heute ist, nämlich eine unverzichtbare Ressource der Gesellschaft und Grundlage des Wohlstands.

albinfo.ch: War es in der Schweiz immer selbstverständlich, dass sowohl Jungs als auch Mädchen eingeschult werden durften?

Naxhi Selimi: Der Zugang zur Elementarbildung war grundsätzlich für Mädchen und Jungen möglich. Allerdings wurden Mädchen und Jungen nur während der dreijährigen Elementarschule gemeinsam und ab der vierten Klasse, also ab der Realschule, getrennt unterrichtet. Eine weitere Besonderheit bezieht sich auf die Schulfächer: Während die Jungen, die auf den Militärdienst vorbereitet werden sollten, standardmässig das «vaterländische» Fach Turnen besuchten, zählten Handarbeit und Hauswirtschaft als obligatorische Fächer für die Mädchen. Deutsch und Mathematik seien für Letztere weniger wichtig, meinte man, deshalb sollten sie durch einen reduzierten Besuch dieser Fächer entlastet werden. Zwar hiess das Volkschulkonzept «Bildung für alle», in der Praxis wurden jedoch die Schulfächer geschlechterspezifisch und unterschiedlich gehandhabt. Dies könnte man auch als Schulpraxis mit verschiedenen Standards für Mädchen und Jungen bezeichnen.

albinfo.ch: Welche Rolle spielten die Noten? 

Naxhi Selimi: Noten sind so alt wie die Volkschule selbst. Dieses Thema prägt die Volksschule und das gesamte Bildungssystem bis heute. In Fachkreisen und in der Praxis wird es eher kontrovers diskutiert und sorgt nicht selten für hohe Emotionen. Dies konnte ich unter anderem während meiner früheren Tätigkeit bei der Bildungsdirektion des Kantons Zürich von Nahem beobachten und stellte fest, dass die Benotung von vielen Fachleuten und Eltern als fester Bestandteil der Schule wahrgenommen und verteidigt wird. In der Fachliteratur jedoch findet man Beiträge namhafter Pädagoginnen und Pädagogen des deutschsprachigen Raums, die seit Jahrzehnten für eine Notenabschaffung plädieren. Kritische Stimmen gehen davon aus, dass die Noten bei vielen Schulkindern Stress verursachen und deren Lernprozess negativ beeinflussen. Sie würden zudem bewirken, dass die Betroffenen das Interesse am Thema verlören. Ausserdem seien die Noten ein Selektionsinstrument und mit Ungerechtigkeiten verbunden.

Objektiv betrachtet dienen die Noten tatsächlich der Selektion, stellen aber zugleich die erbrachten Leistungen der Schülerinnen und Schüler dar. Hinzu kommt, dass ein Teil der Eltern – vermutlich aufgrund ihrer eigenen Schulerfahrung – möchte, dass ihre Kinder benotet werden. Es gibt aber auch Eltern, die notenfreie Schulen wie etwa die Montessori- oder Steinerschule besuchten und aus eigener Erfahrung wissen, dass eine sogenannt formative Beurteilung in Form von Rückmeldungen und ohne Ziffernoten den Lernprozess besser unterstütze. Meine eigenen Beobachtungen in der Praxis und die Rückmeldungen einzelner Schülerinnen und Schüler deuten darauf hin, dass manche Lernende notenfokussiert lernen und wenig, um deren Wissen in bestimmten Themen zu vertiefen. Es gibt aber auch wettbewerbsorientierte Lernende, die sich ungeachtet der Noten mit den Schulinhalten vertieft auseinandersetzen und die Noten als selbstverständliches Produkt ihrer Leistung betrachten. Es gibt leider keine Patentlösungen. Wichtiger noch: Der Notenverzicht ist in der Schweizer Gesellschaft – zumindest zum jetzigen Zeitpunkt – nicht mehrheitsfähig.

albinfo.ch: Gute Schüler bringen gute Noten nach Hause und an schlechten Noten sind die Kinder selbst schuld. Ist damit die Erziehungsplicht/ Verantwortung der Eltern getan oder anders gefragt, wie würden Sie diese Aussage aus pädagogischer Sicht beleuchten? 

Naxhi Selimi: Auch diesen Punkt sollte man differenziert anschauen, denn insbesondere Eltern ohne oder mit unzureichenden Deutschkenntnissen können ihre Kinder nur begrenzt oder gar nicht in Schulbelangen unterstützen. Aus schulischer Sicht liegt die Verantwortung für den Schulerfolg bzw. das Schulversagen nicht alleine in den Händen des Kindes, sondern wird zwischen dem Verantwortungsbereich der Lehrperson, der Eltern und dem Kind unterschieden  . Doch wenn Eltern weder die Zeit noch die Sprache beherrschen um ihren Kindern zu helfen, dann ist der Fall etwas spezieller. Denn diese Kinder sind auf sich selbst gestellt und mit dem stets zunehmenden Schwierigkeitsgrad des Schulstoffes überfordert. Es ist unbestritten, dass die Kinder die Unterstützung des Elternhauses brauchen, ungeachtet dessen, wie schulisch begabt sie sind oder eben auch nicht. Sogenannt bildungsferne Eltern sind sich oft nicht bewusst, dass die Selektion im Schweizer Schulsystem früh stattfindet und gehen davon aus, dass ihre Kinder es irgendwie schon aus eigener Kraft schaffen würden. Aus den Gesprächen mit vielen Migranteneltern weiss ich, dass sich viele von ihnen schnell zufriedengeben und sobald die Übertritte stattfinden, feststellen müssen, dass die Leistungen ihrer Kinder für eine Zuteilung in eine anspruchsvollere Schulabteilung nicht ausreichen. Ich möchte daher alle Eltern ermutigen, nichts dem Zufall zu überlassen und den Lernprozess ihrer Kinder von Anfang an zu begleiten oder externe Unterstützung zu organisieren, falls sie persönlich nicht helfen können. Denn, jeder investierte Franken in die Bildung des eigenen Kindes zahlt sich für das Kind langfristig aus. Zeitgleich ist es meines Erachtens auch Aufgabe der Schule, alle Schülerinnen und Schüler zu unterstützen, damit sie dem Unterricht ohne Schwierigkeiten folgen und später als erfolgreiche Individuen einen gesellschaftlichen Beitrag leisten und ihr Leben erfolgreich meistern können.

Driter Gjukaj